Mit tiefem Schnee und Temperaturen von minus 30 Grad könnte Europas „Zentralheizung“ versagen, was Deutschland in eine extreme Kälteperiode stürzt. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Szenarios ist höher, als ursprünglich angenommen.
Die Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation (Amoc) steht laut einer Studie von Klimawissenschaftlern kurz vor einem Kollaps. Dies hätte schwerwiegende Folgen: Kommt es zum Zusammenbruch des bedeutenden Meeresströmungssystems, drohen Deutschland eiskalte Winter. Diese Situation wäre eine paradoxe Folge der globalen Erwärmung, denn während die Temperaturen weltweit ansteigen, sinken sie im Norden unter das niveau vor der industriellen Revolution.
Das Amoc-System, zu dem auch der Golfstrom gehört, funktioniert wie eine riesige Umwälzpumpe und gilt als Europas Zentralheizung. Erwärmtes Wasser fließt nahe der Meeresoberfläche von den Tropen nach Norden, während kaltes Wasser in tiefen Schichten nach Süden gepumpt wird.
Die Temperaturveränderungen in Deutschland
Alljährlich sind in München etwa 137 Frostnächte zu verzeichnen. Der Effekt dieser Zirkulation führt dazu, dass Nordeuropa w considerably mildere Temperaturen aufweist als andere Regionen der Welt auf ähnlichen Breitengraden. Zum Beispiel liegt Hamburg beim 53. Grad nördlicher Breite, in etwa auf dem Niveau der kanadischen Stadt Edmonton, die in den Wintermonaten unter andauerndem Frost leidet. In Hamburg hingegen sind die Temperaturen, dank der Amoc, wesentlich erträglicher.
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Wissenschaftler der Universität Utrecht errechneten: Ohne Amoc würde die Lage in Deutschland ungemütlicher. In Hamburg könnten alle zehn Jahre Temperaturen von minus 30 Grad erreicht werden, während in München jedes Jahr 137 Frostnächte erwartet werden. In Berlin würden an 40 Tagen die Temperaturen auch tagsüber nicht über den Gefrierpunkt steigen. Diese Prognose basiert auf einer zu erwartenden globalen Erwärmung von zwei Grad coupled mit einem möglichen Ausfall der Amoc.
Die Wissenschaft hinter der Vorhersage
Die Wahrscheinlichkeit eines Amoc-Kollapses galt über Jahrzehnte als gering. Neuerdings haben Wissenschaftler jedoch etablierte Klimamodelle über längere Zeiträume laufen lassen. Computeranalysen erlaubten einen erweiterten Ausblick in die Zukunft.
Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung war an dieser Auswertung beteiligt. Die Studie des Teams unter der Leitung des niederländischen Meeresforschers und Meteorologen Sybren Drijfhout wurde im Fachmagazin „Environmental Research Letters“ veröffentlicht. Rahmstorf bezeichnet die Ergebnisse als alarmierend und zieht einen Vergleich zu einem bevorstehenden Flugzeugabsturz.
Selbst wenn der weltweite CO2-Ausstoß auf ein Niveau gesenkt wird, das dem Pariser Klimaabkommen entspricht, beziffert die Studie das Risiko eines Amoc-Zusammenbruchs auf 25 Prozent, bei hohen Emissionen sogar auf 70 Prozent. Rahmstorf bemerkte: „Eine Wahrscheinlichkeit von einem Prozent ist bereits zu hoch. Niemand würde ein Flugzeug betreten, wenn die Absturzgefahr ein Prozent beträgt.“
Die Notwendigkeit dringender Maßnahmen
In den Computersimulationen wird der Zusammenbruch der Amoc durch einen Kipppunkt ausgelöst. Zunächst erwärmen sich die Meere im Norden aufgrund des Klimawandels. Das Wasser an der Oberfläche wird leichter und kann nicht mehr effektiv absinken, was das gesamte Strömungssystem schwächt. Weniger warmes, salzhaltiges Wasser aus dem Süden erreicht somit den Norden.
Weniger Salz im Wasser macht es leichter, was laut den Forschern eine sich selbst verstärkende Rückkopplung zur Folge hat. Die Zeit, dieses Szenario abzuwenden, ist begrenzt. Rahmstorf erklärt: „In unseren Simulationen tritt der Kipppunkt in entscheidenden Gebieten des Nordatlantiks typischerweise in den nächsten Jahrzehnten ein.“
Wenn der Kipppunkt überschritten ist, wird erwartet, dass die Amoc-Strömungen 50 bis 100 Jahre nach diesem Ereignis, also nach dem Jahr 2100, vollständig zum Erliegen kommen. Die Wärmemenge, die der Ozean im hohen Norden des Atlantiks abgibt, könnte laut Studie auf weniger als 20 Prozent des heutigen Wertes sinken, in einigen Modellen sogar nahezu null.
Der Prozess ist bereits im Gange. Rahmstorf weist darauf hin, dass es eine Reihe von Indikatoren und Studien gibt, die beweisen, dass die Amoc sich bereits abschwächt. Er warnt: „Wir reden hier über ein Risiko, das wir auf keinen Fall eingehen sollten.“ Die Änderungen der Strömung im Atlantik würden zu den dramatischsten klimatischen Veränderungen in der jüngeren Erdgeschichte zählen.
Die Auswirkungen wären nicht nur in Europa spürbar. Der tropische Niederschlagsgürtel könnte sich verschieben, was je nach Region bedeutende Überschwemmungen oder Trockenheit zur Folge hätte. Darüber hinaus wäre mit einem weiteren Anstieg des Meeresspiegels um bis zu einem Meter im Nordatlantik sowie einer verringerten CO2-Aufnahmekapazität des Ozeans zu rechnen.
Langfristige Folgen und die Ungewissheit der Zukunft
Rahmstorf warnt außerdem, dass die veröffentlichten Wahrscheinlichkeiten für den Amoc-Kollaps möglicherweise zu niedrig sind, da die Standardmodelle das zusätzliche Süßwasser aus dem Abschmelzen des grönländischen Eisschilds nicht berücksichtigen. Dies könnte das System weiter schwächen.
Wenn die Umwälzpumpe des Atlantiks erst einmal ausgefallen ist, ist eine Rückkehr wohl nicht so einfach. Rahmstorf prognostiziert: „Wenn diese Strömung zum Stillstand kommt, wird sie jahrhundertelang bis jahrtausendelang nicht wieder in Gang kommen.“









